Bad Homburg. Im Jahr 1896 erwarb das Hoteliers-Ehepaar Jean und Lina (geborene Weber) Baehl, die auch das Hotel Provence in Cannes betrieben, ein Fachwerkhaus in der Louisenstraße 91. Das Gebäude diente lange Zeit als Hotel, war als Hotel Kaiserlicher Hof und später als Hotel Victoria beziehungsweise Royal Victoria Hotel bekannt. Die Unterkunft stand vor allem bei britischen Gästen hoch im Kurs. Die kamen aus allen Winkeln der Insel, aus Newcastle, London oder Winchester. Aber in den auf drei Stockwerken verteilten Fremdenzimmer logierten auch Franzosen wie der Rentner de la Pierre aus Paris, mit dem Notar van Riet ein Niederländer, aus den Vereinigten Staaten das Ehepaar Wilson aus New York oder der Herr Regierungsrat Nageler aus Speyer. Doch auch schon bevor das Ehepaar Baehl das Hotel führte, gab es illustre Gäste. Einer der ersten Einträge in den Kurlisten stammt aus dem Jahr 1854 – damals, am 07. Mai, nahm der schottische Lieutenant Briggs nebst Gattin Quartier im Hotel Kaiserlicher Hof.
Vor ein paar Jahren wäre für diesen kurzen Absatz noch eine komplizierte und zeitintensive Recherche im Bad Homburger Stadtarchiv vonnöten gewesen, die man ohne Fachwissen gar nicht geschafft hätte. Doch wenn beispielsweise der heutige Eigentümer, der Karstadt Konzern, etwas über die Vergangenheit seiner Immobilie wissen möchte, sind diese Informationen nur wenige Klicks entfernt – das Digitale Gebäudebuch der Stadt Bad Homburg macht es möglich.
Denn jetzt gibt es ein weiteres, neues Modul neben dem Digitalen Gebäudebuch (https://www.lagis-hessen.de/de/dgb), das es ermöglicht, noch fundierter nach den Gästen zu forschen, die laut Kurlisten in Bad Homburg abgestiegen waren. Eine erste Verlinkung zu diesen Kurlisten gab es bereits im Digitalen Gebäudebuch. „Diese Verlinkung wurde nun in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde enorm ausgebaut“, erklärt die Leiterin des Stadtarchivs, Dr. Astrid Krüger. Künftig ist es möglich sein, nach einzelnen Gästenamen zu suchen. Die Fundstellen sind mit Scans der Bände der Kurlisten verlinkt, so dass man sie am Original überprüfen kann. Krüger: „Das ist ein enormer Fortschritt, denn nun ist es zum Beispiel möglich, nach Prominenten zu suchen.“
Doch auch systematische Auswertungen sind jetzt möglich. So kann man die Gästeklientel nach der Herkunft oder den Berufen auslesen. „So wird endlich ein Überblick über die Internationalität und das soziale Niveau der Kurgäste möglich“, sagt Oberbürgermeister Alexander Hetjes und ergänzt: „Das neue Modul ist weit mehr als nur eine nette Spielerei, sondern ein unglaublich wichtiger Baustein für die Erforschung der Geschichte unserer Stadt.“ Der Oberbürgermeister lobt vor allem den digitalen Ansatz des Projekts: „Das Stadtarchiv erweitert mit dem elektronischen Zugriff auf die Kurlisten sein digitales Angebot deutlich.“
Die Kurgäste-Datenbank bildet den dritten Baustein im Projekt eines umfassenden Online-Angebots zur Bad Homburger Kurgeschichte neben den Datenbanken "Orte der Kur“ und „Digitales Gebäudebuch“, die 2013 bzw. 2016 freigeschaltet wurden. Beide entstanden ebenfalls als Kooperationsprojekte zwischen der Stadt Bad Homburg und dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg. Die beiden Vorgänger widmeten sich in erster Linie der Topografie und dem Baukörper der Stadt, gewissermaßen dem „Gehäuse der Kur“. Das neue Projekt wendet sich nun den Kurgästen selbst zu. Die ab 1834 von der Kurverwaltung der Stadt Homburg v. d. Höhe in Form gedruckter Broschüren veröffentlichten Kur- und Fremdenlisten liefern bis 1918 mehr als 550.000 Einträge zu den Besuchern und bieten einen Spiegel eines internationalen ständeübergreifenden Treffpunkts der gesellschaftlichen Eliten.
Die Kurlisten verzeichnen die in einem bestimmten Hotel oder einer Privatunterkunft übernachtenden Personen und deren Ankunftstermine, zumeist unter Angabe von Informationen zum Herkunftsort oder -land, zur Standeszugehörigkeit und zum Beruf sowie zu eventuell mitreisenden Familienangehörigen und Dienerschaft.
„Eine große Herausforderung des Vorhabens bestand darin, die in der Datenbank enthaltenen fast fünf Millionen Einzelinformationen zu validieren, zu konsolidieren und für Forschungszwecke zuverlässig nutzbar zu machen“, erklärt der wissenschaftliche Projektleiter Prof. Dr. Holger Th. Gräf vom Hessischen Landesamt.
In mehrjähriger Arbeit waren extrem viele Arbeitsschritte notwendig, um das neue Modul umzusetzen. So wurde zu jedem Kurgast der Herkunftsort identifiziert und durch Geodaten referenziert. „Das ist bei Orten wie London oder Paris einfach, nicht aber bei kleineren Städten in Russland oder in den kaukasischen Ländern“, erklärt Krüger. Auch die Berufe wurden identifiziert, systematisiert und zu Berufsgruppen zusammengefasst. Alle Personen, die bereits in der „Gemeinsamen Normdatei“ (GND) erfasst sind, wurden mit der GND-Nummer versehen. Das ermöglicht die exakte Identifizierung einer Person und die Verlinkung zu weiteren Infos im Internet. Es ermöglicht aber auch die Suche nach Namen, die verschiedene Schreibweisen haben. Auch dieser Arbeitsschritt war sehr aufwändig, da es in der Regel mehrere Personen gleichen Namens gibt (z.B. in Adelsdynastien).
Die in den Kurlisten enthaltenen Informationen werden mit dem „Digitalen Gebäudebuch“ im Informationssystem LAGIS (https://www.lagis-hessen.de/de/dgb) verknüpft, das Informationen zur Bau-, Besitz- und Nutzungsgeschichte von Gebäuden bereitstellt, die in der Hauptsache während der Blütezeit des Kurbetriebs im Deutschen Kaiserreich als Unterkunft für Fremde dienten. Es enthält derzeit „steckbriefliche“ Informationen zu rund 700 Haupt- und fast 1.200 Nebengebäuden.
Durch die Verknüpfung beider Datensammlungen wird ein bislang einmaliger Zugang zur Erforschung der Verbindung von touristischer Sozialstruktur und baulicher Stadtentwicklung geschaffen.
Dabei dienen die in den Kurlisten aufgeführten Berufe und Rangbezeichnungen als Ausgangspunkt für die Beantwortung sozialgeschichtlicher Fragestellungen. Sie geben die Möglichkeit, Kurgäste nach ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Schichten zu gruppieren. Darüber hinaus wurden die rund 20.000 sachlich oder orthographisch unterschiedlichen Ausprägungen von Berufsbezeichnungen zusammen mit etwa 27.000 unterschiedlichen Schreibungen von Ortsnamen einer sorgfältigen Konsolidierung unterzogen, um eine optimale Recherche zu gewährleisten. Die Namen zahlreicher prominenter Kurgäste, aber auch tausende weniger bekannte Besucher, sind mit Datensätzen der Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek verkoppelt und sichern dem Projekt zusätzlich ein bedeutendes Maß an Kompatibilität zu externen Wissensressourcen.
Damit bieten sich vielfältige Möglichkeiten für die stadtgeschichtliche Forschung, indem fundierte Kenntnisse über die Internationalität der Gästeklientel, aber auch über die Aufenthalte von Künstlern, Schriftstellern, Sportlern (insb. aus der Frühzeit von Tennis und Golf) oder Angehörigen der führenden Adelshäuser Europas erarbeitet werden können. „Die Kurlisten-Datenbank ist ein bislang einzigartiges Instrument zur Erforschung der Sozialgeschichte der Kur“, fasst Prof. Dr. Gräf zusammen.